Ausstellungen
Wir werden bis zur Sonne gehen. Pionierinnen der geometrischen Abstraktion
Mit der Ausstellung „Wir werden bis zur Sonne gehen. Pionierinnen der geometrischen Abstraktion“ rückt das Wilhelm-Hack-Museum im Winter 2024/25 erstmals die Bedeutung von Künstlerinnen für die Entwicklung der geometrischen Abstraktion in den Fokus. Die Schau, die vom 16. November 2024 bis zum 21. April 2025 zu sehen ist, versammelt mehr als 200 Werke der geometrischen Abstraktion ausschließlich von Künstlerinnen. Der Parcours führt von der russischen Avantgarde und dem Bauhaus in Deutschland über Entwicklungen in den 1920er- und 1930er-Jahren in Paris bis hin zur Etablierung der geometrischen Abstraktion als künstlerische Weltsprache nach 1945. Neben Zürich, Mailand und Ulm entstehen mit São Paulo, Buenos Aires und Havanna neue internationale Zentren. In jeder dieser Etappen der Entwicklung der ungegenständlichen Kunst waren Künstlerinnen an wichtigen Ausstellungen beteiligt, haben zum theoretischen Diskurs beigetragen und sich mit einzigartigen Œuvres und Ideen oft radikaler als ihre männlichen Kollegen hervorgetan. Nichtsdestotrotz wurden viele weibliche Positionen von der Kunstgeschichte jahrzehntelang wenig beachtet oder marginalisiert. Die Ausstellung, die nach der Autobiografie von Sonia Delaunay betitelt ist, erzählt in sieben Kapiteln die Geschichte der geometrischen Abstraktion im 20. Jahrhundert aus der Perspektive ihrer weiblichen Vertreterinnen.
Das erste Kapitel „Experimentierfreude und Innovationskraft“ stellt die Entwicklung einer gegenstandslosen Formensprache in der russischen Avantgarde im Kontext eines utopischen Gesellschaftsentwurfs durch Künstlerinnen wie Ljubow Popowa, Olga Rosanowa, Warwara Stepanowa und Alexandra Exter dar. Neben der Malerei wird die Produktionskunst zu einem bedeutenden Ausdrucksmittel: Mit Textilentwürfen, Grafikdesign sowie Bühnenbildern und -kostümen wird ganz unmittelbar der Alltag mit Kunst durchdrungen. Eine Verbindung von Leben und Gestaltung ist auch grundlegend für die im zweiten Kapitel präsentierten Künstlerinnen der „weiblichen Bauhaus-Moderne“. In Weimar, Dessau und Berlin waren zwar Studentinnen zugelassen, sie arbeiteten aber vor allem in weiblich konnotierten Tätigkeitsfeldern der angewandten Kunst wie der Webereiklasse. Neben Gunta Stölzl und Anni Albers, die die traditionsbehaftete Webtechnik durch ihre radikal geometrischen Textilarbeiten revolutionierten, entwickelten ebenso Marianne Brandt, Alma Siedhoff-Buscher und Lucia Mohloy eine abstrakte Formsprache.
Das Kapitel „Radikale Abstraktion“ rückt die französische Metropole Paris und ihre Bedeutung für die Vernetzung internationaler Künstlerinnen in den Fokus. Unterschiedliche Auffassungen abstrakter Kunst treffen dort aufeinander, wobei Künstlerinnen die geometrische Abstraktion in der freien und angewandten Kunst vorantreiben. Unter dem Begriff Simultané überträgt Sonia Delaunay ihre auf Farbkontrasten basierende abstrakte Malerei auf Grafik-, Textil- und Modedesign und auch Sophie Taeuber-Arp entwirft anfänglich Gebrauchsgegenstände und Innenarchitekturen nach den gleichen geometrisch-abstrakten Prinzipien wie später ihre Malerei. Ab den 1940er-Jahren etabliert sich die geometrische Abstraktion als globales Phänomen. Neben Paris avancieren Mailand, São Paulo, Havanna oder Montevideo zu Zentren einer neuen Avantgarde. Das Kapitel „Globale Aufbrüche“ präsentiert eine neue Generation von Künstlerinnen, die an die Errungenschaften der 1920er- und 1930er-Jahre anknüpft, wobei das Experimentieren mit neuen Formen, Materialien und Techniken den Fokus bildet.
In „System und Leichtigkeit“ stehen serielle Ordnungsprinzipien im Zentrum. Judith Lauand, Hedi Mertens, Vera Molnar oder Lygia Pape suchen mit mathematischen und seriellen Kompositionen nach neuen Bildlösungen und knüpfen gleichzeitig an die Analysen der Zwischenkriegsjahre an. In „Das Spannungsfeld von Farbe und Form“ steht die Farbe als wichtiges bildgestaltendes Element im Mittelpunkt. Farbe ist ohne Form nicht denkbar. Sie vermag verschiedene Bildebenen zu erzeugen, durch Wiederholung und Vervielfältigung Rhythmen entstehen zu lassen oder durch Reduzierung eine spannungsvolle Komposition zu erzeugen, wie beispielsweise in der Hard-Edge-Malerei von Carmen Herrera. Abschließend setzt „Bewegte Geometrien“ den Fokus auf die Beziehung zwischen Werk und Betrachtenden. Gemälde und Objekte der Op-Art zeigen die Bedeutung von Wahrnehmung in der geometrischen Abstraktion, während die partizipativen Skulpturen von Mary Vieira und Lygia Clark eine aktive Teilnahme der Betrachtenden fordern.
Mit der Schau möchte das Wilhelm-Hack-Museum einen Beitrag zur Revision der Kunstgeschichte leisten und die Bedeutung von Künstlerinnen in der ungegenständlichen Kunst hervorheben. Die von Dr. Astrid Ihle und Julia Nebenführ kuratierte Ausstellung versammelt Leihgaben aus internationalen privaten und öffentlichen Sammlungen sowie Werke aus der eigenen Sammlung.