Bühne
Verzerrte Realitäten – Ein performativer Stadtrundgang durch Karlsruhe
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat die Welt verändert oder, wie es das Badische Staatstheater Karlsruhe formuliert, die Realitäten verzerrt. Nachrichten aus dem Kriegsgebiet drängen sich in unseren Alltag, der Schrecken ist nahe und alte Sicherheiten gelten nicht mehr. Und trotz allem singen jeden Morgen die Vögel… „Was bedeutet Krieg für die eigene Lebensrealität?“, diese Frage untersuchen Tetiana Hubrii und Eivind Haugland mittels Texten u.a. von Yevgenia Belorusets, Natalia Vorozhbyt, Volodymyr Surai und Serhij Zhadan – allerdings nicht auf der Theaterbühne, sondern auf Straßen und Plätzen mitten in Karlsruhe. Was man sich darunter vorzustellen hat, erzählt Regisseur Eivind Haugland im Interview mit „Delta im Quadrat“.
Delta im Quadrat: Erzählen Sie uns zuerst kurz, worum es beim performativen Stadtrundgang „Verzerrte Realitäten“ geht?
Eivind Haugland: Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist plötzlich wieder Krieg mitten in Europa. Wir befinden uns seit dem 24. Februar also in einer anderen Realität. Natürlich betrifft das vor allem die Personen, die in der Ukraine geblieben oder in andere Länder geflüchtet sind, aber auch in unserem Lebensalltag erlebt man plötzlich eine Kriegsbedrohung, die früher nicht da war. Mit der Inszenierung wollen wir also untersuchen, wie ein Krieg sich auf die eigene Lebensrealität auswirkt: Welche Konsequenzen hat er für den einzelnen Menschen, wie manifestiert er sich und wie verändert er die vertraute Lebensumgebung?
DiQ: Wie vermittelt man die bitteren Tatsachen des Krieges mitten im friedlichen Alltagsleben einer ganz normalen deutschen Stadt?
EH: Die Inszenierung besteht aus Tagebucheinträgen, Erzählungen, Essays und dramatischen Texten, meistens aus der zeitgenössischen ukrainischen Literaturszene, die alle unterschiedliche Aspekte einer Kriegsrealität thematisieren. Meistens sind es eher reflektierende Texte, die einen dazu einladen, die eigene friedliche Stadt und Lebensrealität aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Teils werden die Texte als Audiowalk und teils als Live-Schauspiel ausgetragen, man erlebt also die Geschichten direkt in der Stadt und nicht vor irgendeiner Kulissen in einem dunklen Zuschauerraum. Wir hoffen, dass genau dieser reale Kontrast zwischen dem friedlichen Karlsruher Stadtleben und den Geschichten der Kriegsrealität das Vorstellungsvermögen der ZuschauerInnen stimuliert und dass es uns so gelingt, mit den Mitteln der Kunst dieses Thema besser nahezubringen als zum Beispiel die Nachrichten es schaffen.
DiQ: Was bringt die ukrainische Regisseurin an Innensicht mit und wie hat sie die letzten Monate erlebt?
EH: Tetiana Hubrii konnte bereits Anfang März nach Deutschland fliehen, hat natürlich aber täglich Kontakt zu Familie und Freunden, die sich noch in der Ukraine befinden und teilweise auch dort als Soldaten kämpfen. Daher teilt sie uns aus erster Hand viel von der laufenden Entwicklung mit, hat aber auch entsprechendes Hintergrundwissen zur Ukraine und dem aktuellen Konflikt. Das hat uns in der Arbeit sehr geholfen, um die Kriegsrealität auch für uns greifbarer zu machen. Es ist natürlich eine schwierige Zeit für sie, zum einen macht sie sich Sorgen um ihre Bekannten, zum anderen ist es auch nicht einfach, sein ganzes Leben hinter sich zu lassen und sich neu zu etablieren in einem fremden Land mit einer fremden Sprache. Daher freut es umso mehr, dass wir diese Zusammenarbeit hinbekommen haben.
DiQ: Wie kann man sich diese Zusammenarbeit bei der Entwicklung vorstellen?
EH: Die Regisseurin und ich haben bis Probenbeginn eine Textauswahl getroffen, die wir mit den SchauspielerInnen gelesen und diskutiert haben. Uns interessierten dabei auch die Erfahrungen, die sie seit dem 24. Februar gemacht hatten, denn darum geht es uns schließlich: Wie hat dieser Krieg die jeweilige Lebensrealität beeinflusst? Was hat er verändert? Einige der Texte haben wir dann wieder verworfen, noch andere sind dazugekommen und schließlich haben wir geschaut, an welcher Stelle in der Stadt der jeweilige Text am besten passt. Es ist also eine sehr kollektive Arbeit gewesen, wo die Thematik durch eigene persönliche Erfahrungen ergänzt wurde.
DiQ: Man weiß es vor der Premiere natürlich noch nicht, aber: Welche Reaktionen erwarten Sie von Seiten der Karlsruherinnen und Karlsruher, die Elemente der Performance zufällig mitkriegen?
EH: Nur in einer Szene geht es ein bisschen heftiger zu, die findet allerdings eher versteckt statt mit Publikum und Begleitpersonal aus dem Staatstheater drumherum, sodass man zumindest verstehen wird, dass die Szene Teil einer Performance ist. Ansonsten werden die ganzen Texte – inklusive der Live-Auftritte – über Kopfhörer übertragen, als Passant wird man also nicht viel vom Dialog mitbekommen. Am besten merken die KarlsruherInnen einfach, dass etwas Interessantes los ist, sodass sie selber neugierig werden und Karten kaufen!
DiQ: Und ganz konkret: Wie läuft das Ganze ab? Wo trifft man sich, wie bewegt man sich durch den Stadtraum, was erwartet die Teilnehmenden und wann sind die Termine?
EH: Start- und Endpunkt ist am Theater, dazwischen wird man als Gruppe zu Fuß durch die Stadt begleitet mit Texten am Ohr für unterwegs, während die Szenen sich an festen Stationen in der Stadt ausspielen. Am Ende gibt es dann ein kleines Konzert am Vorplatz des Staatstheaters mit der ukrainischen Musikerin Mavka, die ukrainische Volkstöne loopt und in tolle Beats umwandelt. Premiere ist am 30. Juni, alle weiteren Termine sind unter www.staatstheater.karlsruhe.de abrufbar.
DiQ: Vielen Dank für das Gespräch!