Leben im Delta
73. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg
Das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) feiert im Spätherbst seine 73. Ausgabe und verspricht wieder ein spannendes Programm mit zahlreichen Deutschlandpremieren. Von fesselnden Neo-Noir-Thrillern bis hin zu animierten Meisterwerken zeigt das Festival Filme, die aktuelle gesellschaftliche und politische Themen wie Resilienz und Widerstand aufgreifen. Im Wettbewerb „On the Rise“ stehen zudem Werke im Fokus, die von Selbstermächtigung und queeren Perspektiven erzählen. Unser Interview mit dem Festivalleiter Sascha Keilholz gibt einen Überblick über das Festivalgeschehen.
Delta im Quadrat, Tim Fischer: Die Vorfreude auf die 73. Ausgabe des IFFMH ist groß! Mit welchem Film starten Sie das Festival und worauf darf man noch besonders gespannt sein?
Sascha Keilholz: Wir starten mit Jason Buxtons „Sharp Corner“, in dem Cobie Smulders („How I met your mother“) und Ben Foster ein Ehepaar spielen, das sich den Traum vom eigenen Haus in der Vorstadt erfüllt, nur um zu realisieren, dass es sich um einen Alptraum handelt. Buxton balanciert diese Geschichte zwischen Drama und Psychothriller, vereint schwarzen Humor, Hitchcock-Bezüge und Anklänge an „American Psycho“. Das ist so schon faszinierend und dann spielt Ben Foster auch noch oscarverdächtig einen Mann, dessen Midlife Crisis für ihn selbst und alle in seinem Umfeld zu Gefahr gerät.
Als Centre Piece zeigen wir „April“ der georgischen Regisseurin Dea Kulumbegashvili. Um diesen Film reißen sich gerade alle Festivals weltweit, er lief in Venedig, Toronto und San Sebastián. Ein anderer Festival-Liebling ist der diesjährige Cannes-Gewinner „Emilia Pérez“ über einen mexikanischen Kartellboss, der zur Frau wird. Erzählt als Musical! Das muss man gesehen haben, um es zu glauben. Und auch hier zeichnen sich Oscars ab!
DiQ: Im Programm, insbesondere im Wettbewerb, finden sich Filme, die als Form des Widerstands interpretiert werden können. Um welche Herausforderungen geht es und warum sind solche Filme relevant?
SK: Der Wettbewerb „On the Rise“ ist das Herz des IFFMH. Die Sektion ist wie ein Seismograph und erforscht das ganz aktuelle weltweite Filmschaffen. Da finden sich Produktionen unter anderem aus China, Brasilien, Indien, Marokko und der Dominikanischen Republik, die sich auf völlig unterschiedliche Weise mit den sozialen, politischen und gesellschaftlichen Gegebenheiten in ihrem Land auseinandersetzen. Mal geht es dabei um die Repressalien des Systems, mal um die Überwindung des Patriarchats, mal um Fragen der Migration. Uns erlaubt das eine Perspektive auf Fragen menschlichen Miteinanders, die wir sonst nie einnehmen könnten. Die Filme überbrücken für uns gewissermaßen eine geografische, aber auch soziale oder historische Distanz.
DiQ: Das IFFMH zeigt auch Produktionen aus weniger bekannten Filmnationen, beispielsweise Georgien. Wie wählt das Festival solche internationalen Filme aus und was ist deren Beitrag zur Diversität des Festivalprogramms?
SK: Internationalität und Diversität spielen eine zentrale Rolle im Auswahlprozess. Grundsätzlich bilden wir das weltweite Kino in seiner Vielfalt ab und zeigen Produktionen aus allen Kontinenten. Was die Filme aber eint, ist ihre Eigenständigkeit. Sie alle loten auf unterschiedlichen Wegen die Grenzen des Mediums aus. Im Umkehrschluss bedeutet es für uns, Filme nie nach ihrem vermeintlichen „Exotismus“ auszuwählen, sondern immer nach ihrer Substanz. Und dann kommen die Filme gewissermaßen selbst zu einem, überraschen uns. In manchen Jahren ergeben sich dadurch ganz faszinierende Konstellationen. So haben wir dieses Jahr nicht nur „April“ als Centre Piece, sondern mit der skurrilen Komödie „Holy Electricity“ und dem Coming-of-Age-Film „Panopticon“ gleich noch zwei weitere georgische Beiträge im Wettbewerb.
DiQ: Es gibt auch Dokumentarisches, innovatives Genre-Kino und Kurzfilme an außergewöhnlichen Orten zu entdecken. Kann man sagen, das IFFMH verschiebt Grenzen?
SK: Wir lieben Genre-Kino genauso wie Experimentelles. Und spannend wird beides, wenn es sich aneinander reibt. Wenn ein Genrefilm etwas noch nie dagewesenes versucht, einen völlig neuen Blick wählt. Das gilt etwa für „The Kingdom“, einen Thriller über die korsische Mafia aus Perspektive einer Teenagerin, als Vater-Tochter-Drama inszeniert. Aber genauso dreht das Enfant Terrible Albert Serra mit „Afternoons of Solitude“ nicht einfach einen Dokumentarfilm über den „Messi des Stierkampfs“ – die Aufnahmen, egal ob in der Arena während des Spektakels, im Hotelzimmer davor oder im Auto danach, haben etwas genuin Kinematografisches und vor allem Narratives. Das ist eine Explosion an Farben und Emotionen. Außerdem zeigen wir im Rahmen einer eigens kuratierten „Salon-Edition“ eine Reihe ausgewählter Kurzfilme in Barber-Shops und einem Tattoo-Studio in der Mannheimer Innenstadt. Das erweitert unsere Perspektive auf Kino eindeutig!
DiQ: Die Retrospektive zeigt jedes Jahr einen thematischen Streifzug durch die Filmgeschichte. Diesmal geht es um „Körper im Film“ in ganz unterschiedlichen Darstellungsformen. Welche Filmauswahl habt ihr getroffen?
SK: Das Kuratieren der Retrospektive macht insofern immer besonderen Spaß, als dass man zum Teil durchaus bekannte Sachen nebeneinanderstellen kann, die vermeintlich gar nicht zusammengehören. So läuft bei uns „Terminator 2“ mit Arnie neben Catherine Breillats schockierendem Coming-of-Age-Drama „Meine Schwester“. Da gibt es Entdeckungen wie „The Watermelon Woman“, ein Dokument queeren schwarzen US-Kinos der 90er Jahre von Cheryl Dunye oder das kurze iranische Meisterwerk „The House is Black“ über eine Leprakolonie zusammen mit „Black Girl“ von Ousmane Sembène, einem Klassiker des frühen Afrikanischen Kinos. Gerahmt wird die Retro von Buster Keatons Slapstick-Klassiker „Steamboat Bill, Jr.“ und Gareth Evans „The Raid“, wo wir jeweils Körper in extremster Aktion erleben.