Leben im Delta
Stadt.Wand.Kunst – Mannheims Open Urban Art Museum
Schon einmal schmückte ein Fassadenbild den Titel von „Delta im Quadrat“: Im Sommer 2017 blickte „Véra“ die Leserinnen und Leser unserer fünften Ausgabe an. In Wirklichkeit aber erstreckt sich Hendrik Beikirchs ausdrucksstarkes Portrait einer russischen Frau über die immense Fläche von 13 Etagen eines Hochhauses in der Brandenburger Straße in Mannheim – als eines der Murals von Stadt.Wand.Kunst, dem Mannheimer Großprojekt, das seit 2013 Jahr für Jahr bekannte nationale und internationale Street Artists einlädt, um großformatige Wandgemälde an Hausfassaden im gesamten Stadtgebiet anzufertigen. So werden triste graue Wände in ausdrucksstarke Kunstwerke verwandelt und das erste frei zugängliche Museum für Fassadenkunst in Baden-Württemberg entsteht: das Open Urban Art Museum Mannheim!
Stadt.Wand.Kunst begann im Frühsommer 2013 mit einem Aufruf des weltweit etablierten Künstlerduos HERAKUT: Jasmin Siddiqui und Falk Lehmann suchten eine weitere Wand für ihr „Giant Storybook Project“, ein Bilderbuch-Projekt, bei dem sich die einzelnen Seiten auf Hausfassaden über die ganze Welt verteilt aufblättern. Nachdem die Alte Feuerwache Mannheim in Kooperation mit Montana Cans Heidelberg bereits mehrere gemeinsame Street-Art-Ausstellungen und Graffiti-Projekte auf die Beine gestellt hatte, beschloss man, das Vorhaben von HERAKUT zu unterstützen. Die Mannheimer Wohnbaugesellschaft GBG war schnell bereit, eine passende Wand zur Verfügung zu stellen, und so entstand im Juli 2013 in der Mannheimer Innenstadt schräg hinter dem Rathaus das Fassadengemälde „My Super Hero Power is Forgiveness“. Seitdem kamen Jahr für Jahr neue Murals hinzu: abstrakt, konkret, schwarzweiß oder bunt, mal verspielt, mal grafisch strukturiert, mit verblüffend dreidimensionalen Effekten und zum Träumen anregenden Motiven. Besonders spannend ist dabei immer auch der Entstehungsprozess der einzelnen Werke, denn erst vor Ort wird einem deutlich, wie überwältigend groß das Motiv und wie klein der jeweilige Ausschnitt ist, den die schwindelfreien Künstlerinnen und Künstler (größtenteils sind es zugegebenermaßen Männer) auf ihrer Hebebühne vor Augen haben. Welch logistischer Aufwand dahintersteckt und welche immensen Mengen an Spraydosen oder Wandfarbe für ein Fassadenbild gebraucht werden!
Im gleichen Jahr wie „Véra“, also 2016, in einer von Flüchtlingskrise und Brexit-Debatten geprägten Zeit, brachte der polnische Künstler BEZT sein Motiv „Europe“ auf die Wand. Geboren 1987, ist er die zweite Hälfte der ETAM CRU und gehört zu den gefragtesten Artists weltweit. Das Mural in E7, 22 zeigt in blaugrauen Schattierungen drei Frauen mit trauerndem Ausdruck, im Duktus der gegenwärtigen Zeit angemessen und in seiner Ausdrucksstärke in Verbindung mit seinem Titel zu den verschiedensten Assoziationen anregend. Genau dies ist schließlich auch eines der Ziele von Stadt.Wand.Kunst: Jeder soll jederzeit (und übrigens auch auf absolut pandemietaugliche Weise) kostenlosen Zugang zu Kunst haben, soll staunen, träumen, inspiriert werden und die Gedanken frei laufen lassen können! Im Mannheimer Stadtgebiet existieren aktuell 33 Murals, 14 davon mitten in den Quadraten, der Rest in der Neckarstadt, Wohlgelegen, der Vogelstang und im Benjamin Franklin Village. Eine „Mural Map“ mit den genauen Positionen aller Werke findet sich im Internet oder in Papierform bei der Tourist Information – sie kann als Ausgangspunkt zur Planung einer individuellen Fassadenkunst-Tour nach Wahl genutzt werden, sortiert nach Stadtteilen oder, mit deutlich mehr zurückzulegender Strecke, in chronologischer Ordnung. Da beginnt der Spaziergang mit Herakuts „Super Hero Power“, erstreckt sich über genannte „Véra“ und „Europe“ und endet vorerst bei Mural #33, dem kontrastreich-harmonischen „Avancée sur la mer“ des Franzosen ZOER. So ist zumindest der Stand im Frühling 2022 – doch für den kommenden Sommer wird schon wieder weitergeplant! Wer immer auf dem Laufenden bleiben will, verfolgt die Website samt Blog oder das Projekt auf Facebook und Instagram.